Entartete Musik

Entartete Musik
Als ‘entartete Musik’ bezeichneten die Nazis alle Musik, die in ihren Augen moralisch und politisch verwerflich war. Die Komponisten dieser Musik mussten bekämpft und Aufführungen ihrer Werke mit allen Mitteln verhindert werden.

Ursprung des Begriffs
Den Begriff ‘entartete Kunst’ verwendete schon der deutsche Romantiker Friedrich Schlegel (1778-1829), der damit seine Geringschätzung für die Dichtung der Spätantike zum Ausdruck brachte.

Auch der Anarchist Max Nordau (1849-1923), deutsch-jüdischer Schriftsteller polnisch-russischer Herkunft, verwendete den Begriff ‘entartet’ und gab ihm in seinem 1882 erschienenen Werk ‘Entartung’ die Bedeutung moralischer Entartung, eines Krankheitssymptoms des menschlichen Geistes. In seinen Augen war die ‘Fin-de-siècle’-Stimmung in Europa ein Hinweis auf eine falsche soziale Entwicklung, und Kunstströmungen wie Naturalismus, Symbolismus und Realismus waren Anzeichen ‘moralischen Schwachsinns’.

Noch ehe die Nazis sich den Begriff aneigneten, um damit alles abzukanzeln, was in ihren Augen nicht durch und durch gesund deutsch war, wurde das Wort ‘entartet’ bereits populär. So verwendete der Maler Franz Marc es im Jahre 1915 dazu, seine Freundin, die Dichterin Else Lasker-Schüler, zu beschreiben, weil sie das Bohemienleben in der großen verdorbenen Stadt so sehr liebte. Beide sollten nicht viel später selbst den Stempel ‘entartet’ aufgedrückt bekommen.

Eine sehr direkte, üble Bedeutung gab Wilhelm von Bode dem Begriff. Er war einer der am höchsten geachteten deutschen Kunsthistoriker und Generaldirektor aller Berliner Museen. Er forderte schon 1919 eine aktive Rolle der Obrigkeit im Kampf gegen die Perversität und Verrohung in der Kunst und gegen den ‘Morast der Entartung’, in den die durch Expressionismus und Dadaismus beeinflusste Film- und Tanzkunst zu gelangen drohte.

Die Begriffe ‘Entartete Kunst’ und ‘Entartete Musik’ wurden niemals gesetzlich definiert, aber sie wurden im Lauf der zwanziger Jahre in zunehmendem Maße mit Machtbegierde und Willkür benutzt. Erst 1937/38 wurden sie zu für alle Zeiten feststehenden Begriffen, als die Nazis unter diesen Titeln in München (bildende Kunst) und Düsseldorf (Musik) Ausstellungen organisierten, die dem breiten Publikum zeigen sollten, welch ein perverser, geistesschwacher Betrug die moderne Kunst war.

Die Münchener Ausstellung der bildenden Kunst lockte dreimal so viele Besucher an (bis zu 40.000 pro Tag), wie die gleichzeitig organisierte Ausstellung der ‘reinen Kunst’, die den Nazis angenehm war. Das wurde dann ausgelegt als eine Demonstration der Solidarität für die nationalsozialistischen Ideen.

Entwicklung während der Weimarer Republik (1918-1933)
In Deutschland herrschte nach dem Ersten Weltkrieg eine turbulente Situation: quälender Hunger, lähmende Inflation, ein schmorender Bürgerkrieg, Straßenkämpfe und Anschläge, aber auch eine wahnsinnige Genusssucht und explosive Kreativität unter Künstlern waren an der Tagesordnung. Das Ende des Krieges hatte eine unbeschreibliche kulturelle Blüte zur Folge, deren absoluter Mittelpunkt Berlin war. Zahllose neue Initiativen wurden ergriffen, getragen von einem nach Kultur lechzenden Publikum. Viele bedeutende Ideen und Strömungen aus dem ersten Jahrzehnt, in ihrer Entwicklung durch die Kriegsjahre behindert, setzten sich jetzt durch. 

Kunstströmungen, wie der Expressionismus, der Dadaismus, die Neue Sachlichkeit, der Russische Konstruktivismus, die Musik der Wiener Schule Arnold Schönbergs, die Architektur von Poelzig, Von der Rohe, Gropius und Le Corbusier – sie wurden jetzt erstmals von breiteren Kreisen akzeptiert und blühten somit auf. Entscheidungsbefugte, Organisatoren und einfach ‘Privatpersonen mit Geld’ organisierten Vorstellungen und Festspiele, kauften und betrieben Theater und Kinos, gründeten eine Film- und Schallplattenindustrie, erteilten Aufträge oder waren bereit, Künstler zu unterstützen. Aufträge erteilte auch das neue Medium Rundfunk, der nach den ersten experimentellen Sendungen von 1919/20 im Lauf der zwanziger Jahre einen enormen Auftrieb bekam. Schon 1931 besaß fast die Hälfte aller Berliner Haushalte einen Empfänger.

Künstler gründeten neue Zeitschriften, stellten Musik- und Theatergesellschaften zusammen und vereinten sich zu Kollektiven, um gemeinsame Ideen und Interessen mit Kraft zu verkünden. Auch auf dem Gebiet des Balletts entstand ein neuer Stil: der sogenannte ‘Ausdruckstanz’, eine freie Form des Tanzes, welche sich noch als Grundlage für spätere moderne Gruppen erweisen sollte, wie die von Pina Bausch oder vom Nederlands Danstheater.

Die Neuerungen galten auch für die wissenschaftlichen Ideen von Physikern wie Albert Einstein und Niels Bohr, des Soziologen Max Weber und des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Studenten und Anhänger des Letztgenannten, befreit vom starren Wien und der beklemmenden Nähe ihres Lehrmeisters, gründeten 1920 ein Berliner Institut, das innerhalb kürzester Frist zum weltweit bedeutendsten Zentrum für Psychoanalyse wurde. 

Die Nazis machten schließlich allen diesen Aktivitäten ein Ende. 

Reaktionäre Kräfte
Aufgrund der Enttäuschung über den verlorenen Krieg und die von den Siegermächten auferlegten Reparationen, festgelegt im umfangreichen Vertrag von Versailles (440 Artikel in 15 Teilen), entwickelte sich unter dem nationalistischen Teil der deutschen Bevölkerung ein wachsender Hass gegen ‘das Ausland’. Man konstatierte einen ‘volksfeindlichen Internationalismus’ und man glaubte an eine ‘Jüdisch-Bolschewistische Verschwörung, die darauf abzielte, Deutschland nicht nur militärisch und wirtschaftlich, sondern auch kulturell in die Knie zu zwingen’ – wie der Komponist Hans Pfitzner es 1920 formulierte. Die reinen, durch und durch deutschen Normen und Werte mussten erhalten, geschützt und gefördert werden; alles davon abweichende, jedes neue Element, galt als Bedrohung der eigenen Kultur und Identität und durfte nicht toleriert werden. 

Diese Normen und Werte bezogen sich sowohl auf das Idiom, die musikalische oder bildende Sprache (Atonalität, Einflüsse des Jazz / abstrakte, nicht realistische Malerei) als auch auf die Verwendung alltäglicher oder trivialer Themen. Ein Musterbeispiel für ‘entartet’ war eine Oper wie ‘Maschinist Hopkins’ des Wiener Komponisten Max Brand (Uraufführung in Duisburg 1928): die Handlung bezog sich auf Neid, Korruption, Spionage, Mord, Prostitution, Rache und Ausbeutung des Arbeiters und spielte sich ab in unansehnlichen Örtlichkeiten, wie einer Fabrikhalle und einer Bar. Dazu verwendete Brand diverse musikalische Idiome: atonale Musik, Jazz und Black Bottom sowie futuristischen Maschinenlärm. Die Oper hatte einen sensationellen Erfolg.

Da Neuerungen und Kreativität für Kunst und Kultur lebenswichtig sind (Schönberg: “Kunst ist neue Kunst”), waren Konflikte unvermeidlich. 

Schon früh waren reaktionäre Kräfte aktiv: selbst der unpolitische, nichtjüdische  Dichter/Maler/Kabarettist Joachim Ringelnatz (1883-1934) wurde schon vom Beginn der zwanziger Jahre an mit Polizeimaßnahmen konfrontiert. Seine grotesk-tragischen, humoristischen und in unseren Augen völlig harmlosen Gedichte wurden kritisiert als angebliche ‘Verspottung des Bürgertums’, ‘eine Gefahr für die sittliche Entwicklung der Kinder’ und die ‘Verletzung des Schamgefühls normaler Menschen’. Sie wurden beschlagnahmt, und der Verleger musste hohe Strafen bezahlen. 

Der deutsch-tschechische Komponist Erwin Schulhoff, der 1919 mit großen Erwartungen nach Deutschland gezogen war, weil dort ‘the Action’ war, zog sich 1923 wieder zurück: den Fremdenhass empfand er als unerträglich, und er kehrte zurück in seine Heimatstadt Prag.

Im Jahre 1928 stellte die Führung der Berliner Akademie der Künste fest, dass ausländische Musik die deutschen Konzertprogramme überwucherte, und ersuchte den Justizminister um gesetzliche Maßnahmen.

Das Aufblühen der Kunst und die Verschlechterung der sozialen Umstände führten zu einer weiteren Polarisierung. Die Zahl der Einschüchterungen von Künstlern und linken Intellektuellen war schon in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Legion. Schon ehe Hitler 1933 offiziell die Macht ergriff, mussten Theater ihre Tore schließen, wurden Künstler mit Auftrittsverboten behindert (auch Ringelnatz), durfte ein bestimmtes Repertoire nicht mehr aufgeführt werden und verschwanden Zeitungen und Zeitschriften. Drei Monate nach der Machtergreifung begannen die ersten öffentlichen Bücherverbrennungen: Werke van Gide, Remarque, Freud und über 150 weiteren Autoren wurden vernichtet.

Der Bildersturm wurde zur Menschenjagd. Künstlertum war nicht mehr eine Frage des Lebens, sondern des Überlebens. Das Los von zahllosen, meist jüdischen, Künstlern und Intellektuellen, die nicht mehr rechtzeitig an einen sicheren Ort flüchten konnte, ist bekannt. Für die Tausenden Nichtjuden lagen die Dinge anders; eine Anzahl konnte den Krieg überleben, indem sie, wenngleich widerwillig, kollaborierten (die Dirigenten Von Karajan und Böhm, der Komponist Werner Egk), oder sich möglichst unauffällig verhielten (der Komponist Anton Webern). Selbst mäßiger Widerstand wurde, vor allem von bekannteren Persönlichkeiten - der Schriftsteller Kästner, der Komponist Hartmann - toleriert. 

Die Emigration erwies sich für viele Künstler schwierig oder gar nicht möglich, weil die finanziellen Mittel oder erforderlichen Verbindungen fehlten. Viele Länder nahmen Flüchtlinge nur auf, wenn sie nachweisen konnten, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen oder über Kontaktpersonen zu verfügen, die sich für sie verbürgten.

Sehr vielen Künstlern, die das Glück hatten, emigrieren zu können, ist es nachher schlecht ergangen, sowohl finanziell als auch künstlerisch. Zum Beispiel Leopold Spinner (1906-1980)), ein feinsinniger Komponist, Schüler von Webern, stand jahrelang als Schlosser in einer englischen Fabrik, dirigierte in den Abendstunden Amateurchöre und gab untalentierten Kindern Klavierunterricht. Selbst der große Arnold Schönberg lebte bis zu seinem Tod in den USA am Rande des Existenzminimums. Für sehr viele bedeutete die Emigration ein schwerer Anschlag auf ihre schöpferischen Fähigkeiten. Es war, wie der Komponist Vladimir Vogel sagte: “Der Weg in die Schweiz war der Weg an einen sicheren Ort. Es war aber auch ein Weg ins Abseits”. 

Emigranten arriveren in New York (1937)
Emigranten arriveren in New York (1937) copyright Bernd Lohse (Beeldarchief Preussischer Kulturbesitz)